Alljährlich gibt es im Berliner Haus der Kulturen der Welt vier
Wochen lang „Wassermusik“, ein Festival, das nicht nur die Musik, sondern auch Literatur,
Filme, Speisen, Getränke und andere kulturelle Besonderheiten eines bestimmten
Landes feiert. In diesem Jahr ist Indien an der Reihe.
Seit gut 15 Jahren ist Indien eine kulturelle Offenbarung
für mich. Ich habe alles an indischer Literatur gelesen, was auf dem Markt
verfügbar ist, mich durch die Speisekarten indischer Restaurants probiert,
erfolglos den Hinduismus zu ergründen versucht, mir ein umfangreiches Sortiment
an Räucherstäbchen zugelegt und eine Reihe von Bollywood-Filmen über mich
ergehen lassen.
In erster Linie aber hat Indien sich mir über seine Musik
erschlossen. Dass Goa-Festivals für mich das unübertroffene Highlight des
Jahres bedeuten, wurde hier ja schon erwähnt. Aber ich habe mich auch sehr
intensiv mit dem sogenannten Asian Underground beschäftigt, also der
Verschmelzung traditioneller indischer Rhythmen, Melodien und Instrumente mit
modernen musikalischen Strömungen wie Elektro, Dubstep oder Triphop.
Und genau das stand für Freitagabend auf dem Programm im
Haus der Kulturen der Welt. Also: hin!
Die Bühne für die Bands steht im Wasser eines flachen
Beckens, auf der Wiese davor ist reichlich Platz für das Publikum, und rund 40
blaue Liegestühle laden zu einem entspannten Sommerabend ein. Die sind bei
meinem Eintreffen – eine gute halbe Stunde vor dem Beginn des Konzerts – zwar noch
frei, aber ohne Ausnahme bereits als „reserviert“ gekennzeichnet – durch Taschen,
Jacken oder sogar durch einen über drei Stühle hinweg gespannten Schal. Da
haben wohl einige Besucher im Mallorca-Urlaub gut aufgepasst.
Na, macht nichts. Ich hole mir erst mal einen Cocktail mit dem
verheißungsvollen Namen „Goa Heat“ einschließlich der gut gemeinten Warnung des
Barmixers: „Das ist aber ganz schön starkes Zeug, was Sie da bestellen!“
Die erste Band des Abends ist Swami aus London. Sie sind
pünktlich, sie sind zu siebt, und gleich mit dem ersten Song machen sie mächtig
Druck.
Das beflissene Bildungsbürgertum wirkt ein wenig verstört, während der charismatische Sänger Sur immer wieder zum Aufstehen,
Tanzen, Mitklatschen animiert.
Die erhoffte Offenbarung sind Swami und ihr „Desi Rock“
nicht unbedingt. Ihre Musik hat nur geringe Spuren von indischen Wurzeln und
auch nur einen Hauch von Elektro. In erster Linie machen sie eingängige,
poplastige, dancefloortaugliche Songs ohne besondere Ecken und Kanten, aber
live mit viel Charme und Selbstbewusstsein vermittelt.
So nach und nach tauen die ersten Zuschauer auf
und beginnen zaghaft mit den Füßen zu wippen. Wie bei jedem Live-Event gibt es
auch hier jene nicht mehr ganz junge einzelne Frau, die schon bei den ersten
Takten ekstatisch und selbstvergessen Hüften, Arme, Beine und Haare schlenkert,
häufig in mehrere Richtungen gleichzeitig und selten im Rhythmus der Musik.
(Vielleicht ist es ja immer dieselbe, und vielleicht macht sie das beruflich.)
Nur wenige machen jetzt noch ostentativ deutlich, dass sie
sich kulturell unterfordert fühlen.
Die Atmosphäre wandelt sich allmählich von Hochkultur zu
Picknickwiese. Prenzlauer-Berg-Familien bringen ganze Scharen von Kleinkindern
mit, deren Ohren sie fürsorglich mit Wachspfropfen versiegelt haben,
Pappschalen mit Würstchen und Lammcurry werden umhergetragen, Schuhe abgestreift
und leere Bierbecher mitsamt Pfandmarke folgsam zum Verkaufsstand
zurückgebracht.
Der zweite Act des Abends heißt Red Baraat und kommt aus New
York. Auch sie sind eine große Truppe, acht Musiker diesmal, mit zwei Schwerpunkten:
Percussions und Blech.
Ihre Songs pendeln irgendwo zwischen Jazz, Bhangra und
Balkan Beats und reißen das Publikum von Anfang an mit. Jetzt hopst der Hipster
und hüpft der Hippie, oben tanzt der Turban und unten der Turnschuh. Die Sonne
sinkt, die Stimmung steigt.
Ganz vorne sitzt eine alte Lady barfüßig auf ihrem Rollator
und reißt begeistert die Arme in die Luft. Und die vormals so erbittert
umkämpften Liegestühle will plötzlich keiner mehr haben. Applaus für Mother India!
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