Mit seinem Erfolgsroman Aus
den Fugen hat Alain Claude Sulzer einen Maßstab gesetzt, der nur schwer zu
erreichen sein konnte. Tatsächlich ist ihm dies mit Postskriptum nur bedingt gelungen.
Anders als Titel und Buchcover suggerieren, handelt es sich
bei Postskriptum nicht um einen
Briefroman. Vielmehr thematisiert der Roman das Scheitern – ein Scheitern auf
mehreren Ebenen, über mehrere Jahrzehnte hinweg und verkörpert durch mehrere
Personen.
Lionel Kupfer ist zu Beginn der dreißiger Jahre ein Star. Er
ist aus zahlreichen Spielfilmen bekannt, immer noch im besten Alter und genießt
ein paar drehfreie Tage im Hotel Waldhaus im schweizerischen Sils Maria. Ein
Mann, der alles erreicht hat, könnte man meinen – doch eigentlich sehnt er sich
nur nach seinem Geliebten Eduard, einem etwas windigen Kunsthändler, der mit
einer bekannten Opernsängerin verheiratet ist und Lionel am ausgestreckten Arm
verhungern lässt.
Walter ist Posthalter in Sils Maria und betet Kupfer schon
seit langer Zeit an. Er sammelt Bilder und Berichte über ihn wie Reliquien.
Nun, da sein Idol in greifbarer Nähe ist, nutzt er die Chance, sich ihm zu
nähern – und tatsächlich verbringen die beiden einige gemeinsame Nächte. Dann
reist Eduard an, und Walter ist vergessen.
So wie Kupfer sich ihm entzieht, entzieht auch Walter sich
seiner Mutter, einer Wäscherin aus einfachsten Verhältnissen, die weder lesen
noch schreiben, dafür aber sehr intensiv lieben kann. Den Großteil diese Liebe
schenkt sie ihrem Sohn, dem das ein bisschen peinlich ist. Theres denkt noch
immer liebevoll, ohne Groll an ihren Mario zurück, den Italiener, der sie noch vor
der Geburt des Sohnes verlassen hat, und Walters Werdegang verfolgt sie voller
Stolz, denn er hat es ja schon viel weiter gebracht als sie selbst.
Für alle drei bringt das Leben entscheidende Wendungen.
Kupfer gerät in Vergessenheit und bekommt keine Filmangebote mehr. Er geht in
die USA und trauert seinem vergangenen Ruhm hinterher. Ein Engagement von Visconti
lässt ihn auf ein Comeback hoffen – doch seine ohnehin winzige Rolle wird aus
dem Film herausgeschnitten. So muss er sich mit Nebenrollen in
Broadway-Aufführungen begnügen.
Walter gibt die Stelle bei der Post auf und wird Steward bei
der Swissair. Man respektiert und achtet ihn für sein untadeliges Verhalten,
seine Disziplin und Haltung, aber innerlich bleibt er unberührt, ein einsamer
Mann, immer unterwegs, ohne Wurzeln. Er vergisst Lionel Kupfer nicht, einmal
sieht er ihn sogar im Flugzeug wieder, doch es kommt zu keinem persönlichen
Kontakt.
Theres geht nach Bern und findet in ihrer Zimmervermieterin
die erste Freundin ihres Lebens. Per Zufall sieht sie ihren Sohn mit einem
anderen Mann in einem Gartenlokal sitzen. Die beiden kommen sie später auf
Kaffee und Kuchen besuchen, woraufhin die vermeintliche Freundin sich als
bigotte Spießerin entpuppt und Theres das Zimmer kündigt, weil ihre Wohnung
nicht zum „Hort der Unzucht“ werden dürfe.
Scheitern also, immer und überall, jede dieser ganz
unterschiedlichen Personen führt ein Leben der enttäuschten Hoffnungen, der
missglückten Versuche und unerfüllten Wünsche. Sulzer fragt nicht nach dem
eigenen Anteil daran, er schildert die Schicksale wertfrei und beinahe
schmerzhaft neutral, was die besondere Qualität seines Schreibens ausmacht. Wie
ein Chirurg legt er Schicht um Schicht seiner Charaktere bloß, zeigt ihre
Unzulänglichkeiten und Verletzungen, nimmt den einen oder anderen Schnitt vor –
aber zugenäht wird hier nicht.
Das entwickelt einen starken Sog und ist auch sprachlich
größtenteils sauber gelöst. Etwas unklar bleibt die Funktion des Prologs, in
dem geschildert wird, wie der kleine Lionel Kupfer den Unfalltod seines älteren
Bruders erlebt. Dieses eher psychoanalytische Element wird im späteren Verlauf
des Romans nur halbherzig wieder aufgegriffen und wäre aus meiner Sicht
verzichtbar; der Versuch, hiermit den Berufswunsch Kupfers zu begründen, wirkt
arg bemüht.
Die Spannung, die Sulzer in seinem Vorgängerroman Aus den Fugen erzeugt hatte, erreicht er
in Postskriptum nicht. Dazu sind die
geschilderten Lebenswege zu weit voneinander entfernt, es gibt kaum verbindende
Elemente, selbst der optimistischste Leser erwartet kein furioses Happyend. Stattdessen
sehen wir den Charakteren dabei zu, wie sie sich immer weiter von ihren
Hoffnungen entfernen. Das ist psychologisch interessant, aber nicht
atemberaubend aufregend.
Gänzlich unverständlich ist mir die Rolle des Lektorats bei
dieser Veröffentlichung. Immer wieder bin ich beim Lesen über etwas unbeholfene
Formulierungen gestolpert, wie sie jedem – auch dem besten – Autor gelegentlich
unterlaufen und die ein guter Lektor mit minimalen Eingriffen bereinigen kann.
Doch das ist hier unterblieben, und deshalb ärgern allein die ersten vier
Seiten mit:
·
„… und macht sich mit einem schneidenden
Geräusch davon, das die zitternden Halme des spärlichen Grases erzeugten, das
da und dort büschelweise aus dem Sand ragte …“
·
„… alle die, die das sommerliche Leben mit Lion
teilten …“ und
·
„… abwechselnd grau oder schwarz oder bunt oder
beides“.
So geht das bis zum Ende des Romans weiter, und von den unzähligen
Interpunktions-, den häufigen Grammatik- und den gelegentlichen Flüchtigkeitsfehlern
wollen wir dabei gar nicht erst reden. Eine derartige Schludrigkeit ärgert
mich, immer und überall, ganz besonders aber bei Romanen, die auf der letzten
Umschlagseite so vollmundig gepriesen werden wie dieser: „… gehört dieser
Schweizer Autor zum Besten, was die deutschsprachige Literatur bieten kann,
nicht zuletzt aufgrund seiner sprachlichen Brillanz“ – da hätte der Galiani
Verlag sicherlich auch einen annähernd ähnlich brillanten Lektor zum Einsatz
bringen können.
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