Wahrnehmungsapparate: Ein Abend mit Aljoscha Brell, Inger-Marie Mahlke, Martin Lechner, Nina Bußmann

Autorengespräche und Lesungen im LCB Berlin, Dienstag, 27. Oktober 2015, 20 Uhr

Vier Berliner Autor(inn)en, Jahrgänge 74 bis 80, lernten sich vor zehn Jahren an der FU Berlin bei einer Autorenwerkstatt mit Herta Müller kennen. Zum „Jubiläum“ und weil sie alle auch an der Prosawerkstatt des LCB teilgenommen haben, hat das Literarische Colloquium Berlin sie zu einem gemeinsamen Gesprächs- und Lesungsabend eingeladen. Thorsten Dönges moderierte die Runde unterhaltsam und angenehm unprätentiös.



Die vier Autorenkollegen haben an Herta Müller nicht nur romantisch verklärte Erinnerungen. Bei allem Respekt der späteren Nobelpreisträgerin gegenüber schimmern doch ein paar schlecht verheilte Verletzungen des juvenilen Narzissmus durch. Radikal subjektiv sei sie gewesen und habe ihrem Missfallen gegenüber den meisten Texten sehr deutlich Ausdruck verliehen. „Das ist kein literarischer Satz!“, war eine ihrer Standardaussagen. Eine Begründung für ihre Kritik pflegte sie nicht zu liefern. „Aber sie hat es ja trotzdem immer genau getroffen“, wendet Nina Bußmann ein, und die anderen stimmen ihr uneingeschränkt zu.

Die damaligen Studenten verabredeten sich auch nach Beendigung der Autorenwerkstatt immer mal wieder auf eigene Initiative, um das Feedback der anderen zu ihren literarischen Texten einzuholen oder sich einfach zum Prozess des Schreibens auszutauschen. Der Gastgeber besorgte Wurst oder Käse, alle anderen brachten Alkohol mit – „inzwischen wird vegan gekocht“, beruhigt Nina Bußmann. Ob nun Fastfood oder Pflanzenkost, das Konzept kann als erfolgreich gelten: Alle vier haben mittlerweile Veröffentlichungen vorzuweisen, Mahlke sogar drei; Brells Debüt ist erst vor wenigen Wochen erschienen.



Inger-Maria Mahlke, 1977 geboren, wuchs in Lübeck auf und studierte Rechtswissenschaften. Ihr preisgekrönter erster Roman „Silberfischchen“ erschien 2010 im Aufbau Verlag, zwei Jahre später folgte „Rechnung offen“.

Im März 2015 kam ihr Roman „Wie ihr wollt“ im Berlin Verlag heraus. Inger-Maria verwendet einen historischen Stoff aus dem England der Tudor-Zeit, erzählt jedoch in knappen, oft elliptischen Sätzen. Eine Nachahmung der damaligen Sprech- oder Schreibweise müsse immer misslingen, erklärt sie. Sprache habe insbesondere eine klangliche Funktion. Sie möge harte Konsonanten und habe ihren Text komplett durchrhythmisiert. Das wurde durch Gestik und rhythmisches „Mitgehen“ der Autorin sehr deutlich, als sie eine Passage des Romans vorlas.

Eindrucksvoll war die Szene, in der die Protagonistin sich gedanklich mit ihrer bevorstehenden Hinrichtung auseinandersetzt – in geradezu schmerzlicher Detailgenauigkeit antizipiert sie den Weg des Beils durch Knochen, Sehnen und Muskeln, bis die Zuhörer sich verstohlen den Nacken zu reiben begannen.



Martin Lechner, 1977 geboren und ebenfalls aus Lüneburg, schrieb Lyrik und zwei gescheiterte Romanversuche, ehe er eine irgendwann mal angefangene Erzählung aufgriff und sie zu seinem Debütroman „Kleine Kassa“ ausarbeitete, der 2014 im Residenz Verlag erschien. Letztlich hat die Arbeit an diesem Buch sich über zehn Jahre hingezogen. Schon damals in der Autorenwerkstatt von Herta Müller hatte Lechner Teile daraus vorgestellt.

Am Anfang, sagt Martin Lechner, habe er gar nicht gewusst, wohin der Weg führen solle. Er hatte einen Einstieg, aber keine Vorstellung vom weiteren Handlungsverlauf, geschweige denn von einem Ende. So wichtig war das auch gar nicht, denn Martin ist ein Sprachtüftler, einer, der stundenlang an einem Satz feilen kann, bis er das Optimum erreicht hat. Nicht immer zur Begeisterung seiner Autorenkollegen: Das „lichtdurchstoßene Wipfeldach“ aus der von ihm vorgelesenen Romanpassage hat Nina Bußmann seinerzeit als „kitschig“ bezeichnet, erinnert sich Lechner. Inzwischen findet sie es gar nicht mehr so schlimm.

In diesem „Heimatroman auf Drogen“, wie Aljoscha Brell Lechners Debüt charakterisiert, flüchtet ein junger Mann mit einem Koffer voller Geld – wohin und warum ist dabei viel weniger wichtig als das Wie. Hier bewährt sich Lechners Ringen um sprachliche Perfektion. Der Fluchtweg des Protagonisten durch sommerliche Wiesen und Wälder sowie der Fund eines Toten sind temporeich, plastisch und sinnlich erfahrbar geschildert.



Nina Bußmann, geboren 1980, stammt aus Frankfurt/Main. Bereits 2012 erschien bei Suhrkamp ihr erster Roman „Große Ferien“ über einen Physiklehrer, der nach einem Vorfall mit einem Schüler vom Unterricht freigestellt wird. Zurzeit arbeitet sie an einem Nachfolger mit dem Arbeitstitel „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“, der bereits andeutet, dass geografische und geologische Themen eine Rolle spielen. Aber es geht auch um das spurlose Verschwinden einer jungen Frau und die Bemühungen ihrer Freunde und Bekannten, damit umzugehen.

Nina Bußmann wirkt autarker als ihre Autorenkolleg(inn)en, weniger suchend und tastend nach Form und Inhalten, zielstrebiger vielleicht. Ihre schriftstellerische Arbeit ist erkennbar längst Teil ihres Alltags, sie muss nicht hinterfragt werden.

Die Manuskriptpassage, die Bußmann vorstellt, besticht vor allem durch erzählerische Details. Ganz deutlich hat der Zuhörer die magere Straßenhündin vor Augen, die, von einem einzigen achtlos weggeworfenen Speiserest angelockt, ihre unfreiwillige neue Freundin nicht mehr aus den Augen lässt und sogar bis zum Versagen ihrer Kräfte dem Motorrad hinterherrennt, das sie aus der Stadt trägt.



Aljoscha Brell, 1980 in Wesel geboren, hat ähnlich lange wie Martin Lechner um die endgültige Form seines ersten Romans gerungen, doch im Gegensatz zu seinem Kollegen stand der Plot schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt fest. Sein Problem, so berichten die drei Werkstattfreunde, habe eher darin bestanden, die Figuren mit Leben zu erfüllen und sich von der anfangs allzu satirischen, stark überzeichneten Darstellung zu lösen. Aljoschas Debütroman „Kress“, im September bei Ullstein erschienen, lässt von diesem Kampf nichts mehr erkennen. Die skurrile Titelfigur und auch die Nebencharaktere sind wunderbar plastisch und – was noch wichtiger ist – werden an keiner Stelle der Lächerlichkeit oder Entwürdigung preisgegeben.

Nein, er habe nicht nächtelang an einem einzelnen Komma herumgefeilt, erklärt Aljoscha Brell. Stattdessen habe er immer wieder ganze Passagen komplett gestrichen und neu geschrieben. Immerhin acht Jahre hat dieser Prozess in Anspruch genommen. „Ich trainiere meinen Willen wie einen Muskel“, das habe Aljoscha damals gesagt, verrät Martin Lechner.

Brell gesteht, dass dieses Übermaß an Selbstbewusstsein seinen Zweck nicht erfüllt habe, und zeigt sich überhaupt selbstkritisch und bescheiden genug, um die vollständige Überwindung seiner jugendlichen Fehleinschätzung glaubhaft zu machen. Ehe man diese Demut für eine Pose zu halten geneigt ist, gibt er dann auch unumwunden zu, dass er ein ausgesprochenes Talent für das Schreiben von Dialogen hat. Erfrischend ehrlich – und Recht hat er!

Seine Leseprobe liefert dafür gleich den besten Beweis. Die Szene, in der Kress die Sprechstunde von Professor Schleicher aufsucht, besticht nicht nur durch den wunderbar authentischen Dialog, sondern auch durch eine Vielzahl an großartig beobachteten, entlarvenden Details, die für jenes amüsierte Dauergrinsen sorgen, mit dem man seinen Roman liest.




Der Abend im Literarischen Colloquium Berlin war ebenso informativ wie unterhaltsam. Ganz besonders Schreibende werden sich in den unterschiedlichen Positionen der vier befreundeten Autor(inn)en wiedererkannt haben. Viele der besprochenen Herangehensweisen, Irrtümer, Erfolgserlebnisse und Anekdoten kennt jeder Schriftsteller so und ähnlich aus seinem literarischen Alltag. „Nur-Lesern“ bot die Veranstaltung ungewohnte Einblicke in den Schreibprozess. Und vor allem machte sie neugierig auf die vier jungen Autor(inn)en und ihre Texte!

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