„Wenn’s nicht tragisch ist, weiß ich nicht, wozu ich überhaupt Romane schreiben soll“ - der Schriftsteller Alain Claude Sulzer im Interview
Alain Claude Sulzers Roman Postskriptum erschien im September beim Berliner Galiani-Verlag. Im
Mittelpunkt steht der überaus beliebte Schauspieler Lionel Kupfer, dessen
Karriere Anfang 1933 abrupt endet. Um ihn sind wie Trabanten weitere Figuren
angeordnet, darunter sein Geliebter, der zwielichtige Kunsthändler Eduard, ein
bewundernder Fan, der Postbeamte Walter, oder dessen Mutter, die des Lesens und
Schreibens unkundige Theres.
Am Dienstag stellte der Autor seinen Roman im Brecht-Haus
vor, moderiert von Sigrid Löffler. Zuvor hatte ich die Gelegenheit, mit ihm
über seine Arbeit zu sprechen. Verlegerin Esther Kormann hatte dafür
freundlicherweise die Räumlichkeiten von Galiani angeboten. Sie überließ ihrem
Autor die Schlüssel, und so konnten wir uns zwischen Küchenzeile und
Bücherregalen eine Stunde lang ungestört unterhalten.
Welche Entstehungsgeschichte
hat der Roman Postskriptum?
„Der Stoff ist entstanden, weil ich einen Auftrag vom Waldhaus hatte, für eine Anthologie
einen Beitrag zu schreiben“, erzählt Sulzer. Das Hotel im schweizerischen Sils
Maria, das schon zahlreiche renommierte Künstler beherbergte und Schauplatz
eines Claude-Chabrol-Films war, lege diese Anthologie nun in seinen Zimmern aus
und verkaufe sie natürlich auch. „Der Beitrag ist das jetzige erste Kapitel.
Das ist mehr oder weniger so übernommen. Das war eine in sich abgeschlossene
Erzählung. Und erst danach habe ich angefangen – relativ bald danach –, den
Roman zu entwickeln, aber das war die Grundkonstellation.“ Die genaue zeitliche
Einordnung der Handlung in den Januar 1933 sei möglicherweise erst später erfolgt,
überlegt der Schriftsteller und Journalist. „Aber der Ausgangspunkt war das
Waldhaus, und hätte ich diesen Anthologie-Auftrag nicht bekommen, hätte ich
diesen Roman mit Sicherheit nie geschrieben.“
War es so, dass die
Figuren Sie nicht mehr losgelassen haben?
„Genau. Dann habe ich sehr bald
ein anderes Projekt beiseitegelegt und habe hiermit weitergemacht, weil ich da
mehr Möglichkeiten sah, einen Roman zu machen, und dann ist der Roman
eigentlich relativ schnell entstanden.“
Gibt es denn einige
Charaktere in Postskriptum, die Ihnen
mehr am Herzen liegen als andere?
„So wenig ich mir selbst am
Herzen liege, so wenig liegen mir fremde Personen, die ich erfunden habe, am
Herzen“, erwidert der Autor etwas kryptisch und führt dann aus: „Es entsteht ja
keine Identifikation oder so. Niemand ist mir besonders nah, das kann ich nicht
sagen. Ich habe wirklich eine starke Distanz zu den Figuren. Das heißt aber
nicht, dass ich nicht sehr nah an sie herangehe. Ich kann ganz nah rangehen,
aber es gibt keine emotionale Bindung.“ Dass der Effekt beim Leser durchaus ein
anderer sein könne, räumt Sulzer ein, aber: „Es ist keine bewusste
Entscheidung. Ich setze mich nicht hin und sage, ich bin bewusst distanziert,
damit die Leser ihnen umso näher sind.“
Welchen Zweck erfüllt
das Postskriptum des Romans, das ihm den Titel gegeben hat?
„Da der Titel schon sehr früh da
war, war es wichtig, dass etwas Schriftliches – also etwas Veraltetes, von
heute aus gesehen – noch einmal festhält, was Kupfer wichtig ist, dass er sich
noch mal Rechenschaft ablegt, dass er etwas zu fassen versucht.“ Das
Postskriptum ist in diesem Roman ein Brief, den der Schauspieler an den
Postbeamten Walter schreibt, mit dem ihn vor vielen Jahren eine kurze,
unverbindliche Affäre verbunden hat. „In gewisser Weise ist es ein Postskriptum
seines Lebens, und das war mir wirklich wichtig.“
Die schwulen
Liebesbeziehungen in Ihren Büchern sind von einem starken Ungleichgewicht
geprägt – einer liebt, und einer lässt sich lieben.
„Lionel könnte jederzeit aussteigen“,
ist sich Alain Claude Sulzer im Hinblick auf dessen Liebe zu dem
undurchsichtigen Kunsthändler Eduard sicher. „Er ist sich sehr wohl bewusst, in
welche ,Gefahr‘ er sich da begibt, und in dem Moment, wo er nach Amerika geht –
also ziemlich schnell –, ist die Geschichte ja auch für ihn erledigt. Eduard
gibt es noch vielleicht als ein gewisses Verlangen, aber es ist keine starke
emotionale Bindung.“ Darauf verweise auch das dem Roman vorangestellte Motto
von Max Brod, auf das der Autor erst ganz am Schluss gestoßen sei. Kurzfristige
Zweckgemeinschaften, so bezeichnet Sulzer diese Beziehungen: „Jeder nimmt sich
das, was er glaubt zu brauchen, ohne Rücksicht auf die Verluste auf der anderen
Seite.“
Bedient das nicht ein
Klischee? Häufig wird doch schwulen Beziehungen nachgesagt, sie seien weder
stabil noch verlässlich.
Er habe nicht die Absicht gehabt,
ein Klischee zu erfüllen, erklärt der gebürtige Schweizer, aber: „Erfüllte
Lieben zwischen gleichaltrigen, auf Augenhöhe befindlichen Schwulen halte ich
ehrlich gesagt nicht für literaturfähig. Das ist ja total langweilig. Wenn’s
nicht ohne Drama abgeht … aber dann wären wir schon wieder auf einem Gebiet,
auf dem ich nicht funktioniere.“ Und eins steht fest: „Wenn’s nicht tragisch
ist, weiß ich nicht, wozu ich überhaupt Romane schreiben soll.“
Aus den Fugen (erschienen 2012) ist ein Roman, in dem es zentral um
Musik geht. Vor kurzem haben Sie sogar ein Opernlibretto geschrieben. Wie ist
Ihr persönliches Verhältnis zur Musik?
„Ich habe in letzter Zeit sehr
viel über Musik geschrieben“, bestätigt der mehrfach preisgekrönte Autor, „aber
das hat vielleicht etwas mit dem Roman zu tun. Ich habe mich immer viel mit
Musik beschäftigt, aber es hat sich gar nie ergeben, dass man mich darum
gebeten hätte, über Musik zu schreiben. Ich hätte vermutlich schon vorher was
über Musik zu sagen gehabt, aber es hat mich einfach keiner gefragt, und mit
diesem Roman hat sich das geändert.“
Er selbst spiele kein Instrument,
aber wenn man jahrzehntelang kaum etwas anderes höre als klassische Musik,
entwickle man ein gutes Gehör und ein feines Gespür für die Materie. Das
Verfassen des Librettos, das auf seiner Novelle Annas Maske basiert, sei ihm nicht schwergefallen, versichert der
Autor, der auch einige Theaterstücke verfasst hat.
Gibt es eine Schweizer
Literaturszene, und fühlen Sie sich ihr zugehörig?
„Kann ich klar mit nein
beantworten. Ich fühle mich nicht zugehörig. Ich denke, es gibt so was
Ähnliches, aber wie alles in so einer globalisierten Welt ist auch die in
Auflösung begriffen, würde ich sagen“, stellt der 62-Jährige fest und fügt
hinzu: „Bis 1945 war die natürlich ganz stark. Die Schweizer Literatur empfand
sich sicher auch als Bollwerk gegen das Fremde, als Schutz.“ Max Frisch und Friedrich
Dürrenmatt seien in den fünfziger und sechziger Jahren dann zu Weltliteratur
geworden und extrem erfolgreich gewesen. „Das war wie ein Wunder, das kann man
so sagen.“ Die beiden Schweizer waren erfolgreicher als alle deutschen Theaterautoren
zusammen, vermutet Sulzer.
Heute erregt diese Fragestellung
eher seinen Unmut. „Es wird immer wieder darüber diskutiert: Was ist Schweizer
Literatur? Das Ende der Diskussion ist immer: Man weiß es nicht. Es ist
eigentlich das ödeste Thema, was man überhaupt beackern kann, und kommt bei
jedem Literaturfestival in der Schweiz ungefähr ein Mal vor. Kein Mensch würde
fragen: Was ist deutsche Literatur?“ Und Sulzer wird noch deutlicher: „Ich
glaube, dass die Schweizer Autoren, die man eigentlich ernst nehmen kann, sich
eben gerade abgrenzen von jeder Vereinnahmung als Schweizer. Ich kenne keinen
einzigen, der so auf seiner Heimat, auf seiner Herkunft beharrt. Ich glaube,
der würde sich ja total lächerlich machen.“
Gleich beginnt Ihre
Lesung im Literaturforum des Brecht-Hauses. Wie bereiten Sie sich auf solche
Lesungen vor? Welche Textpassagen wählen Sie aus?
Er wähle abgeschlossene Kapitel,
selbsterklärende Passagen, die auch ohne Moderator funktionieren, erläutert der
Schriftsteller. In diesem Fall heiße das: die wichtigsten Figuren vorzustellen
und einen Zeitbogen zu schlagen. Die Länge seiner Lesungen sei flexibel. „Wenn
ich merke, sie fangen an zu husten oder mit den Füßen zu scharren, dann würde
ich es ein bisschen abkürzen.“
Was ist Ihr persönliches
Lieblingsbuch?
„Hab ich das? Muss ich das haben?“,
fragt Alain Claude Sulzer ratlos zurück. Nach einigem Grübeln fällt ihm aber
doch noch etwas ein: „Ich habe wahnsinnig gerne Am Strand von Ian McEwan gelesen, das hat mich extremst
beeindruckt, diese Könnerschaft. Aber es gibt da ganz viele. Es gibt so
wunderbare Bücher, die man leider auch manchmal wieder vergisst oder die mir
jetzt nicht gerade präsent sind. Es gibt immer wieder tolle Bücher, gar keine
Frage.“
Welches von Ihren eigenen
Büchern ist Ihnen denn am wichtigsten?
„Jetzt kommt so eine
Standardantwort“, kündigt der Autor an: „Das, was ich gerade schreibe. Das
andere interessiert mich jetzt eher weniger. Das ist das, was ich jetzt am
spannendsten finde.“
Verraten Sie darüber
schon etwas?
„Nein, überhaupt nicht, null.“ Da
ist Sulzer rigoros. „Das weiß noch nicht mal mein Verleger.“ Immerhin gibt es
einen Zeitrahmen: „Spätestens in zwei Jahren müsste das fertig sein, wenn ich
dazu komme, es ist auch kein besonders umfangreiches Projekt.“
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