Eine wenig bekannte Novelle des Romantikers E. T. A.
Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi,
stand im Mittelpunkt dieser Veranstaltung des Berliner Instituts fürPsychotherapie und Psychoanalyse (BIPP). Den Einstieg ins Thema erleichterte
die Aachener Schauspielerin Petra Welteroth, die einige zentrale Passagen der
Novelle vortrug – insbesondere jene natürlich, in denen es um den talentierten Goldschmied
und Juwelier Cardillac geht.
Dieser Mann ist verantwortlich für eine unheimliche
Mordserie im Paris des Jahres 1680, also zur Zeit Ludwigs XIV. Immer wieder
tötet und beraubt er Männer, die sich nachts heimlich mit Juwelengeschenken zu
ihren Geliebten schleichen. Den von ihm selbst gefertigten Schmuck kann und
will er mit niemandem teilen.
Hoffmanns Forschung nach den Motiven des mordenden Juweliers geht ungewöhnlich tief. Eine pränatale Prägung, hier: ein traumatisches Erlebnis der Mutter Cardillacs während ihrer Schwangerschaft, wird für seine verbrecherische Neigung verantwortlich gemacht. Kein Wunder also, dass die Psychologie noch heute vom Cardillac-Syndrom spricht, wenn es um ein pathologisches Festhalten von Künstlern an ihren Werken geht.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach
hat die Novelle aus dem Jahr 1819 vor allem auf ihren gesellschaftlichen
Kontext hin untersucht. Sie spiegelt, so sagte er, ein Bild der Angst und der
überall lauernden Bedrohung. Die Menschen sind verunsichert, sie ergreifen
zahlreiche Maßnahmen zu ihrem Schutz, das gegenseitige Misstrauen wächst. Immer
neue Polizeieinheiten werden ins Leben gerufen, um der Verbrechensserie Herr zu
werden.
In dieser gefahrvollen Situation wächst das Bedürfnis nach
Sichtbarkeit, der Wunsch, „das Innerste der Häuser zu erspähen“ – wir erleben
also hier erste Entwürfe eines Überwachungsstaates.
Gehrlach berichtete, dass er sich der Hoffmann’schen Novelle
zunächst mithilfe von Michel Foucault und seinem Panoptikon zu nähern versucht habe, einem Konzept der totalen
Beobachtung von Strafgefangenen, dann habe er auch bei dem französischen
Polizeikritiker Jacques Rancière und schließlich in Hannah Arendts Theorie der
Feindangstbestimmtheit nach Aufschluss gesucht.
Den entscheidenden Zugang zum Fräulein von Scuderi fand er jedoch bei dem Philosophen Roland
Barthes und dessen Bemerkung, in der Literatur gehe es darum, „zu sehen, wie
jemand nicht sieht“. Als Leser beobachten wir also, wie die Protagonisten Dinge
und Situationen nicht erkennen, die uns klar vor Augen stehen. Dies macht den
Reiz der Literatur aus.
Man könne dieses Konzept auch auf die Literaturwissenschaft
erweitern, meinte Andreas Gehrlach, denn auch diese bemühe sich ja zu erkennen,
was wiederum der Leser nicht sieht, also die Metaebenen des Textes. Und sogar
der Psychoanalytiker arbeite nach diesem Prinzip, wenn er sieht, was sein
Patient nicht sieht – und vor allem, wie
er es nicht sieht.
Es fällt nicht schwer, von dieser „Gesellschaft des
verwilderten Blicks“, wie E. T. A. Hoffmann sie in seiner Novelle beschreibt,
einen Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Ob nun wirklich „jedes Handy eine Wanze“
ist, wie Gehrlach sagte, lassen wir dahingestellt. Sicher ist jedoch, dass Facebook,
Selfie-Wahn und YouTube-Clips eine größtenteils freiwillige und selbstinduzierte
Sichtbarkeit schaffen, die unser soziales Miteinander massiv beeinflusst und
verändert.
Die Veranstaltung bot auch noch eine interessante
Interpretation aus psychoanalytischer Perspektive durch Bernd Heimerl und eine
anschließende Diskussion, bei der Themen wie Objektbeziehung, Narzissmus,
Physiognomik, die beiden Verfilmungen des Scuderi-Stoffes
und ödipale Strukturen eine Rolle spielten. Erfreulich war, wie viel Interesse
das literarische Thema bei den überwiegend psychotherapeutisch orientierten
Zuhörern erregte – die Leselust war geweckt!
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