Tante Hedwig lebt allein in Elmshorn und wird irgendjemandem
mal ihr Haus und ihr Vermögen vermachen. Na ja, Vermögen ist vielleicht zu viel
gesagt, aber so ein kleinerer fünfstelliger Betrag fällt da schon an.
Am ersten Weihnachtstag um kurz vor zehn sitze ich am
Laptop. Ich lasse mir die Nummer in meinem Kontaktspeicher anzeigen und klicke
auf Erweitert – Profil. Sie ist
inzwischen dreiundachtzig. Verwitwet seit 1997. Ihr Mann hieß Wilhelm.
Unter Medizinische
Daten finde ich heraus, dass sie an Blasenschwäche, Bluthochdruck und
Arthrose in beiden Kniegelenken leidet. 2013 hatte sie eine Hüft-OP. Derzeit
ist sie wegen ihres nachlassenden Gedächtnisses und gelegentlichem Ohrensausen
in Behandlung bei einem Neurologen. Die Laborergebnisse der letzten
Blutuntersuchung liegen noch nicht vor.
Ich scrolle weiter zu Aktuelle
Kommunikation. Den letzten Anruf hat sie von der Orthopädiepraxis Dr.
Schönlein erhalten, das war am 19. Dezember. Drei Tage vorher ein ausgehendes
Gespräch, Teilnehmerin Elfriede Link. Sagt mir nichts, aber dem Vornamen nach
tippe ich auf eine etwa gleichaltrige Bekannte. Mehr ist unter diesem Menüpunkt
nicht zu finden.
Zur Sicherheit frage ich noch mal ihren Kontostand ab. Hedwig
bekommt eine ansehnliche Rente; ihr verstorbener Mann hat gut für sie gesorgt.
Ihr Guthaben beträgt 19.423,50 Euro. Es gibt die üblichen Daueraufträge für
Miete und Rundfunkbeitrag, halbjährliche Überweisungen an die Gärtnerei Holtmanns
für die Pflege von Onkel Wilhelms Grab und jeweils um den Monatsersten eine
Barabhebung von 500 Euro. Tante Hedwig führt ein sehr bescheidenes Leben. Sie
kommt ja auch nicht mehr viel vor die Tür wegen ihrer Knie.
Beherzt greife ich zum Handy und wähle die Nummer. Eine
dünne, brüchige Stimme mit skeptischem Unterton. „Ja, bitte?“ Menschen ihres
Alters haben gelernt, dass es besser ist, sich nicht mit dem Namen zu melden.
„Tante Hedwig? Hier ist Michael. Frohe Weihnachten wünsch
ich dir! Wie geht’s dir denn so?“
„Wer ist da?“
„Michael aus Hamburg!“
„Ach so, Michael.“ Tante Hedwig hört nicht mehr gut, und sie
vergisst auch so manches. Ich höre die Unsicherheit heraus. Sie weiß nicht
genau, wer ich bin, doch es ist ihr peinlich nachzufragen.
„Ich hab in den letzten Wochen ganz oft an dich gedacht,
Tante Hedwig. Wegen dem Glatteis und so. Ist das bei euch auch so schlimm? Was
macht denn …“ Meine Augen wandern zum Bildschirm des Laptops. Ich klicke auf
den Menüpunkt Haustiere. „… der liebe
Maxi?“
„Der Maxi? Ach, der ist ganz schön dick geworden. Der liegt
ja nur noch auf der Fensterbank. Wenn es so kalt ist, will er überhaupt nicht
raus.“
„Aber dafür ist er dann immer bei dir, das ist doch schön,
oder?“
„Ja. Der Maxi. Der wird immer fauler.“ Gibt es eigentlich
medizinische Gründe dafür, dass alte Menschen viel langsamer sprechen als
junge? Es könnte was mit dem Erschlaffen der Gesichtsmuskulatur zu tun haben,
oder vielleicht dauern die neuronalen Verknüpfungen einfach länger. Muss ich
mal googeln.
„Was machst du denn so an den Feiertagen, Tante Hedwig? Hast
du Besuch?“
„Ach, wer soll mich denn schon besuchen kommen. Ist doch
keiner mehr da. Ich sag immer, der liebe Gott hat mich vergessen!“ Das
unbeholfene Kichern, mit dem sie den letzten Satz als scherzhafte Bemerkung
kennzeichnet, klingt eher resigniert als fröhlich. „Über zwanzig Jahre bin ich ja jetzt schon allein. Damals, als der Wilhelm noch lebte ...“
„Ja, der Onkel Wilhelm – der war immer so lustig! Er konnte
tolle Witze erzählen.“ Als Wilhelm gestorben ist, war ich zwei.
Tante Hedwigs krächzendes Lachen geht in einen trockenen
Husten über. „Und manche waren ganz schön unanständig! Der Wilhelm, ich hab
immer gesagt, der hat das faustdick, faustdick hat der das hinter den Ohren!“
„Ja, da hast du Recht. Aber er war trotzdem immer total
lieb, der Onkel Wilhelm.“
Ein tiefer Seufzer. „An den Feiertagen fehlt er mir schon
sehr.“
„Das kann ich gut verstehen, Tante Hedwig. Das muss schlimm
sein so allein. Sag mal, wenn du gar keinen Besuch hast – wie wär’s denn, wenn
ich morgen mal vorbeikomme? Auf ein Tässchen Kaffee und ein paar Plätzchen
vielleicht? Natürlich nur, wenn du Zeit hast. Ich will mich ja nicht
aufdrängen.“
„Ach, das wäre schön! Ich hab ja auch wieder Zimtsterne
gebacken. Viel zu viele, die kann ich alleine gar nicht alle essen. Du magst
doch Zimtsterne, oder?“
„Na klar! Weißt du das denn nicht mehr? Das waren immer
schon meine Lieblingsplätzchen.“
„Ja, natürlich …“
„Dann morgen so gegen halb vier? Ich hab auch ein kleines
Geschenk für dich, das hab ich vergessen abzuschicken, aber dann kann ich dir
das ja gleich persönlich geben. Ist sowieso viel schöner, oder?“
„Hach!“, ruft Hedwig aus, „aber ich hab doch gar nichts für
dich … Also, das ist mir jetzt aber wirklich unangenehm …“
„Nicht so schlimm, Tantchen. Du brauchst mir wirklich nichts
zu schenken. Ich freu mich einfach, dich mal wieder zu sehen.“
„Also, ich lass mir da schon was einfallen. Wenn du dir
schon extra die Mühe machst und bei einer alten Frau vorbeikommst. Du hast doch
bestimmt viel zu tun.“
„Du bist mir aber wichtiger. Ich freu mich sehr! Bis morgen,
Tante Hedwig!“
Jetzt ist es schon fast halb elf. Zeit für meinen Anruf bei Tante Irmgard. Ich rufe ihre Daten im Kontaktspeicher auf.
Traurig
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