Das vielleicht einzige Wort, mit dem man Jonathan Franzens
neuen Roman zusammenfassen kann, lautet „monumental“. Bei 830 Buchseiten geht
diese Beurteilung zugegebenermaßen nicht sonderlich in die Tiefe. Trotzdem
fällt es – nicht nur wegen seines enormen Umfangs – schwer, dem Buch mit den
gängigen Mitteln der Literaturkritik gerecht zu werden.
Unschuld gliedert
sich in sieben Teile, von denen jeder mit einem Wechsel der Perspektive
einhergeht. Der erste beschreibt Purity Tyler, genannt Pip, macht mit ihrem
Alltag und ihrer etwas schwierigen Mutterbeziehung vertraut, und schildert die
erste Kontaktaufnahme zwischen ihr und dem deutschen Whistleblower Andreas
Wolf. Sie interessiert sich hauptsächlich deshalb für ihn, weil sie hofft, endlich
etwas über ihren Vater herauszufinden, den sie nie kennengelernt hat.
Der zweite Teil rollt die Jugend und den Werdegang dieses
Andreas auf. Auch er leidet unter einer schwierigen Mutterbeziehung. Aus Liebe
zu einem jungen Mädchen wird Andreas zum Mörder. Diese Schuld prägt sein Leben.
Der Untergang der DDR gibt ihm die Chance, seiner ständigen Angst vor
Entdeckung zu entkommen und zugleich zum Liebling der Medien zu werden.
In Teil drei begegnen wir Tom und Leila, die beide als
Journalisten für das investigative Online-Magazin Denver Independent arbeiten. Privat sind sie ein Paar. Tom scheint
immer noch von seiner Exfrau beherrscht zu werden scheint, die seit
fünfundzwanzig Jahren vollständig aus seinem Leben verschwunden ist. Pip Tyler
fängt als Rechercheassistentin beim Denver
Independent an, zieht schließlich sogar bei dem Journalistenpaar ein, und
es deutet vieles darauf hin, dass sie Toms leibliche Tochter ist. Die beiden
behalten diese Vermutung allerdings für sich.
Mit dem vierten Teil wird erneut ein chronologischer Rückwärtssprung
vorgenommen. Hier steht wieder Pip im Mittelpunkt, die in das bolivianische Los
Volcanes aufbricht, um bei Andreas Wolfs Sunlight Project mitzuarbeiten. Dieses
Projekt deckt Skandale auf, enthüllt Korruption, Verbrechen und
Unregelmäßigkeiten, und Andreas ist seine glanzvolle Galionsfigur. Es fällt Pip
schwer, sich in das Team einzufügen, aber Andreas umwirbt sie heftig und bringt
sie schließlich dazu, sich bei Tom einzuschleichen, denn er fürchtet, dass
dieser – als einziger Mitwisser des Mordes, den er 1987 begangen hat – ihm schaden
könnte.
Der fünfte Teil – der einzige, der in der Ich-Form erzählt
wird – ist Toms Rückblick auf seine Liebe zu Anabel, also Pips Mutter. Es ist
eine amour fou, quälend, rasend, obsessiv
und unmöglich. Die beiden kommen einfach nicht voneinander los, obwohl sie sich
offensichtlich nur Schaden zufügen. Einer der Streitpunkte ist Geld. Anabel
entstammt einer schwerreichen Unternehmerfamilie und könnte über ein gewaltiges
Erbe verfügen, was sie jedoch radikal ablehnt.
Im sechsten Teil erleben wir die Welt wieder aus der Sicht
Andreas Wolfs. Auch er kann sich nicht von seiner Liebe zu Annagret lösen,
jenem Mädchen, für das er seinerzeit den Mord begangen hat. Er scheint am Ziel
seiner Wünsche zu sein, als sie Jahre später endlich ein Paar werden, doch das
Glück erweist sich als schal. Die Beziehung scheitert, und Andreas bringt sein
Sunlight Project zum Erfolg. Doch verstärkt quälen ihn wieder Schuldgefühle.
Die Angst vor einer Enthüllung des dunklen Flecks in seiner Vergangenheit steigert
sich immer mehr zur Besessenheit, je reiner und unbefleckter sein Ruf als
Verkünder der Wahrheit, als „Überbringer des Sonnenlichts“ wird. Schließlich beherrscht
sie seinen Geist so stark, dass er zum Wahnsinnigen wird. Er nimmt sich das
Leben.
Teil sieben muss also – den Regeln des Romans folgend – die Auflösung,
das Zusammenlaufen der Fäden bringen und tut dies auch. Wie im ersten und im
mittleren Kapitel ist Pip wieder die zentrale Person. Sie ist in ihr vorheriges
Leben zurückgekehrt, hält sich mit Jobs über Wasser und lebt wieder in einem
besetzten Haus mit anderen sozialen Randfiguren zusammen. Kurz vor seinem
Suizid hat Andreas ihr Toms „Memoiren“ – also Teil fünf des Buches – zugemailt.
Sie weiß nun also, wer ihr Vater ist, und sie weiß vor allem auch, dass sie die
Tochter einer Milliardenerbin ist. Im Finale versucht sie die Abwehr ihrer
Mutter gegen dieses Erbe ins Wanken zu bringen und sorgt für ein Wiedersehen ihrer
Eltern.
Man könnte Unschuld
also im weiteren Sinne als Familienroman bezeichnen, auch wenn dieser Begriff
angesichts der enormen Komplexität des Buches recht harmlos daherkommt. In
erster Linie tut es das, wofür Franzen bekannt ist und wofür er auch so geliebt
wird: Es erzählt Geschichten. Unzählige Storys, manche absurd, manche
alltäglich, sorgen für die feinen und feinsten Verästelungen der Handlung. Unschuld ist wie ein Fraktal, das sich
scheinbar ins Unendliche verzweigt. Es erzählt nicht nur die Geschichte von Pip
Tyler, ihren Eltern und Andreas Wolf, sondern auch noch die jener Personen, die
mit ihnen zu tun haben, sei es beruflich, privat oder zufällig, und (fast) jede
dieser Geschichten hat ihren eigenen Charme und öffnet wieder ein neues eigenes
Universum.
Dabei verliert Franzen trotzdem niemals das große Ganze aus
den Augen. So verspielt und verschnörkelt seine Erzählstruktur auch sein mag,
sie bleibt doch zielorientiert, steuert auf einen Zusammenhang, einen Überbau,
eine Auflösung hin, und das ist eine bewundernswerte Leistung. Zu den
besonderen Stärken dieses Romans zählt auch seine wunderbare Sprache, der
Reichtum an Formulierungen und Begriffen, weder nervtötend experimentell noch
ermüdend abgedroschen. Immer findet Franzen das richtige Wort, häufig so
präzise, dass es bis in den nächsten Absatz nachklingt und beim Leser das
angenehme Gefühl erzeugt, exakt zu wissen, was hier ausgedrückt werden soll.
Dazu braucht es weder Adjektiv-Dumping noch langatmige Beschreibungen. Franzens
Sätze sind wie mit leichtem Pinsel hingetupft und erzeugen trotzdem immer ein Bild.
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