T. R. Richmond: Wer war Alice

Ein ansprechend gestaltetes Cover mit dem Bild eines ertrunkenen Mädchens, das frappierend an David Lynchs Twin Peaks erinnert, und die Platzierung des Buches auf den besten Flächen der großen Buchhandlungen haben mich neugierig gemacht. Wer war Alice? Die Idee, das Leben und die Persönlichkeit eines Menschen aufgrund seiner digitalen Fußspuren zu rekonstruieren, hat ein hohes Potenzial.

Was die Umsetzung angeht, bleibt der Roman allerdings weit hinter den Erwartungen zurück. Denn er scheitert an zahlreichen Details: dem Fehlen eines Protagonisten, sympathischer Figuren und einer Erzählperspektive, den bröckeligen und viel zu kurzen Spannungsbögen, der Zersplitterung in zahlreiche unsortierte Fragmente aus Briefen, E-Mails, SMS, Tweets und Forenbeiträgen sowie nicht zuletzt der mangelhaften Übersetzung und überdurchschnittlich hohen Fehlerquote (die beiden letzteren Punkte vermutlich einem hohen Zeitdruck geschuldet).

Die Frage, ob die junge, aufstrebende Journalistin Alice verunglückt ist, ermordet wurde oder Selbstmord begangen hat, schafft es nicht, das Leserinteresse über diesen ermüdenden Wirrwarr von Textschnipseln und Stellungnahmen hinwegzutragen, denn Alice war eine egoistische, unreife und haarsträubend selbstgerechte Person, die schlechte Reportagen schrieb, zu viel trank und anderen auf die Nerven ging. Auch mir. Als möglichen Täter kann ich mich also nicht ausschließen.

Kaum besser kommen die Personen weg, die in Alice‘ Leben eine Rolle gespielt haben und deren schriftliche Äußerungen hier relativ wahllos zusammengetragen sind. Ihre beste Freundin Meg ist eine männerhassende Egozentrikerin, die von Eifersucht gepeinigt wird, und ihr ehemaliger Uni-Professor Jeremy Cooke ein alternder Jammerlappen mit dominanter Libido, der sich in Briefen an einen längst verstorbenen Freund endlos für seine Unzulänglichkeiten rechtfertigt.

Andere wie Alice‘ Exfreund Luke, ihre Eltern oder Geschwister bleiben einfach nur blass, aber sie alle scheinen ebenso unoriginell und durchschnittlich zu sein wie die tote junge Frau.

Viele schöne Ideen werden hier komplett verschenkt: etwa die „15 minutes of fame“, die manch einer sich zu sichern versuchen mag, der die Tote als Letzter gesehen oder gesprochen hat, die erbitterten Streitereien der Online-Community über die diversen Theorien zu Alice‘ Ableben oder das symptomatische Aneinander-Vorbeireden in digitalen Kommunikationskanälen. All dies wird zwar angedeutet, aber nie literarisch überzeugend genutzt.

Stattdessen dauert es ewig, bis man überhaupt ein bisschen „reinkommt“ in die Geschichte, die wie ein 450-seitiger Coitus interruptus immer wieder neue Anläufe nimmt, aber nie zum Höhepunkt kommt. Die Figuren, kaum hat man sie kennen- und auseinanderzuhalten gelernt, werden plötzlich aus einem anderen Blickwinkel geschildert und in ihr Gegenteil verkehrt, was den Roman aber nicht facettenreicher, sondern einfach nur anstrengend macht.

Die stark fragmentierte Struktur soll sicherlich „unsere schnelllebige Zeit“ (Gott, wie ich diese Floskel hasse) spiegeln, die ja angeblich auch geprägt wird von vielen kurzen Informationsbruchstücken. Allerdings kann ich als Teilnehmer der digitalen Welt wenigstens selbst entscheiden, welche Puzzlestücke ich lesen möchte – und auf die allermeisten in diesem Buch versammelten würde ich dabei verzichten. Alice‘ selbstmitleidige Tagebucheinträge, Jeremys weitschweifige Altmännerbriefe und Megs undifferenzierte Hassattacken gegen männliche Mitmenschen sind öde, vorhersehbar und nur sehr bedingt relevant für die Antwort auf die eponyme Frage.

Deren Auflösung ist übrigens keine Überraschung und psychologisch so ausgefeilt wie ein Jerry-Cotton-Roman. Und der schmalzige Schnörkel, der die letzten Buchseiten füllt (vermutlich weil der Verleger gesagt hat: „Hier muss noch ein bisschen was Versöhnliches rein“), löst dann endgültig das dringende Bedürfnis aus, all diesen nährstoffarmen Fastfood-Kram so schnell wie möglich wieder auszuscheiden und rasch ein GUTES Buch zu lesen.

Who the fuck is Alice?


Who the fuck cares!

T. R. Richmond: Wer war Alice, Goldmann, 448 S., 14,99 Euro

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