Zweiunddreißig Stunden, zwölf Minuten und zehn Sekunden soll
er dauern, der Kuss von Harry und Craig. Die beiden Teenager wollen damit nicht
nur den Weltrekord brechen, sondern auch ein Zeichen setzen. Auch die
Geschichten von Neil und Peter, Ryan und Avery, Tariq und Cooper werden
erzählt, schwule Jungs in amerikanischen Kleinstädten, jeder von ihnen mit
einem individuellen und berührenden Schicksal.
Gäbe es einen Preis für die ungewöhnlichste
Erzählperspektive, dann müsste Two Boys Kissing ihn bekommen, denn das
Geschehen wird von den Toten erzählt und kommentiert – von den Tausenden
namenloser Aids-Opfer der vergangenen Jahrzehnte, die wie Geister über uns schweben,
die zuschauen und Anteil nehmen und vieles wissen, das die Jugendlichen erst
noch schmerzlich erfahren müssen, aber dazu verdammt sind, es für sich zu
behalten.
Während die Protagonisten des Romans also ihre ersten
Erfahrungen mit der Liebe machen, ziehen die erzählenden Toten Parallelen und
registrieren die Unterschiede zu ihren eigenen Gehversuchen vor dreißig,
vierzig Jahren. Seither hat sich viel getan; die Akzeptanz von Homosexuellen ist
größer geworden. Und doch gibt es immer noch entsetzte Eltern (Neil und Cooper),
Gewalt (Tariq), Hänseleien von Gleichaltrigen (Ryan). Es gibt immer noch
schiefe Blicke, Beleidigungen und Ausgrenzung.
Damit werden auch Harry und Craig bei ihrem Dauerkuss
konfrontiert, ebenso wie mit sengender Hitze und nächtlicher Kälte, Durst,
Hunger, schmerzenden Beinen, drückender Blase, verspannten Muskeln. Aber ihre
Botschaft geht um die Welt. Am Ende wird ihre Aktion von Tausenden Zuschauern
live im Internet verfolgt, und die Ermutigung ist groß.
Vielleicht wird sich das auch auf die anderen Jungs
auswirken, vielleicht wird Schwulsein irgendwann so selbstverständlich, dass es
keiner besonderen Erwähnung mehr bedarf, genau wie blaue Augen oder
Sprachbegabung. Für die Aids-Toten kommt dies zu spät, aber die homosexuellen
Jugendlichen der Gegenwart – und die im Roman – können möglicherweise auf
bessere Bedingungen hoffen.
Two Boys Kissing ist nicht der erste Roman von David
Levithan, den ich gelesen habe, aber definitiv der beste. Er ist nicht
belehrend, tiefschürfend oder philosophisch und enthält trotzdem zahlreiche
kluge Sätze, die weit über die erzählten Geschichten hinausreichen und von
einer universellen Bedeutsamkeit sind. „Die Liebe tut so weh, wie kann man sie
jemandem wünschen?“ ist einer davon, oder: „Wenn man die Wahrheit sagen will,
ist der erste Satz immer der schwerste.“
Beeindruckend und ungewöhnlich ist auch die Konstruktion:
der Kussrekord als Hintergrund verschiedener Einzel- (oder Paar-)Schicksale und
über allem wie ein Himmelszelt die Sichtweise und die klugen Kommentare der
Verstorbenen, die wie liebevolle Väter oder große Brüder betrachten, was die
nächste Generation umtreibt.
Und schließlich noch ein Wort zum Cover: Es ist in
schlichtem Schwarz gehalten, Autorenname und Titel in einfachen weißen
Buchstaben, und wie zufällig verstreut sieben knallbunte kleine männliche Paare,
die sich an den Händen halten – den internationalen Symbolen an WCs
nachempfunden. Erst bei genauem Hinsehen sieht man, dass sie durch die Farbe
herausgehoben werden aus einer endlosen Reihe von glänzend schwarzen Pärchen auf
dem mattschwarzen Hintergrund, von denen einige auch aus zwei weiblichen Figuren
bestehen. Die Schlichtheit und die subtile Aussagekraft des Buchumschlags
stehen der ästhetischen Wirkung nicht im Wege – Kompliment an den Grafiker.
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